Parlamentarismus

Gedanken zur Lage und Geschichte des Parlamentarismus und Informationen zu seiner historischen Erforschung
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Wissenschaftspreis des Deutsches Bundestages 2021 geht an Benedikt Wintgens

Februar 15, 2021 By: Parlamentshistoriker Category: Bücher, Bundestag

Wie der Deutsche Bundestag mitgeteilt hat, geht der Wissenschaftspreis des Deutsches Bundestages 2021 an meinem Kollegen Benedikt Wintgens.

Der Deutsche Bundestag zeichnet Dr. Benedikt Wintgens für seine Dissertation „Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans“ mit dem Wissenschaftspreis 2021 aus. Die Studie untersucht am Beispiel des 1953 erschienenen Romans „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen die politisch-kulturellen Grundlagen von parlamentarischer Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus in der frühen Bundesrepublik.

Die Jury wählte die Dissertation von Benedikt Wintgens aus 38 Publikationen aus, da sich das Werk durch eine sehr hohe wissenschaftliche und sprachliche Qualität auszeichne und äußert spannend zu lesen sei. Herausragend sei die Auseinandersetzung mit den an den ersten Deutschen Bundestag geknüpften Erwartungen und Vorstellungen. Der Autor thematisiere dabei zahlreiche Aspekte der politischen Kultur, zum Beispiel das Leben und die Arbeitsbedingungen der Abgeordneten, aber auch die Architekturgeschichte der Parlamentsgebäude. Wintgens habe, so die Jury, bisher weniger beachtete Perspektiven auf die parlamen­tarische Geschichte aufgezeigt und dadurch zu einem besseren Verständnis von Parlamen­tarismus beigetragen.

Benedikt Wintgens, geb. 1978, studierte von 1998 bis 2004 Geschichte, Politikwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn. Seit 2005 ist er Mitarbeiter der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) in Berlin. Seit 2017 arbeitet Wintgens zudem als Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. 2018 wurde er von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn zum Dr. phil. promoviert.

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble wird den Preis voraussichtlich am 19. Mai dem Preisträger überreichen.

Der Wissenschaftspreis wurde vom Deutschen Bundestag 1989 aus Anlass seines 40-jährigen Bestehens eingeführt und wird seit 1997 im zweijährlichen Turnus verliehen. Er ist mit 10.000 Euro dotiert und würdigt hervorragende wissenschaftliche Arbeiten, die zur Beschäftigung mit Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen.

Die unabhängige Jury, die im Auftrag des Bundestagspräsidenten die Auswahl trifft, besteht aus neun Professorinnen und Professoren des Staatsrechts, der Geschichtswissenschaft sowie der Politikwissenschaft. Ihre Arbeit endet mit der Legislaturperiode. Eine neue Jury wird jeweils zu Beginn einer Legislaturperiode vom Bundestagspräsidenten ernannt.

Das Buch wurde in der FAZ, im Tagesspiegel und bei H-Soz-Kult rezensiert.

In dem Podcast Anno PunktPunktPunkt hat der Autor über seine Forschung ausführlich berichtet.

Deutscher Bundestag schreibt Wissenschaftspreis für das Jahr 2019 aus

Mai 19, 2018 By: Parlamentshistoriker Category: Bundestag

Im Jahre 2017 gewann Jelena von Achenbach den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages mit ihrer Studie „Demokratische Gesetzgebung in der Europäischen Union. Theorie und Praxis der dualen Legitimationsstruktur europäischer Hoheitsgewalt“.

Im Jahr 2019 wird der Deutsche Bundestag erneut seinen Wissenschaftspreis verleihen. Er würdigt hervorragende wissenschaftliche Arbeiten der jüngsten Zeit, die zur Beschäfti­gung mit den Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen. Der Preis, vom Deutschen Bundestag 1989 aus Anlass seines 40jährigen Bestehens begründet, wird seit 1997 im zweijährlichen Turnus verliehen.
Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.

Für eine Bewerbung gelten folgende Regelungen:
Wissenschaftliche Arbeiten können sowohl vom Autor / von der Autorin selbst als auch durch Dritte vorgeschlagen werden.
Die eingereichten Arbeiten müssen als Print-Version in dreifacher Ausfertigung eingereicht werden. Zudem ist eine elektronische Fassung (PDF-Format) des jeweiligen Wettbewerbsbeitrags beizufügen.
Es können nur bereits publizierte Arbeiten berücksichtigt werden, die seit dem 1. April 2016 erschienen sind.
Bei wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten (Dissertation, Habilitation etc.) müssen die akademischen Verfahren abgeschlossen sein.
Der Bewerbung sind eine maximal dreiseitige Zusammenfassung der Arbeit, ein Lebenslauf sowie die unterschriebene Einverständniserklärung zur Verarbeitung personenbezogener Daten auf Grundlage der DSGVO beizufügen. Die Gutachten wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten können ebenfalls eingereicht werden.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung sind von der Teilnahme ausgeschlossen.
Es werden nur Bewerbungen mit vollständigen Bewerbungsunterlagen berücksichtigt.
Die Print-Versionen der eingereichten Arbeiten werden ausschließlich im Rahmen des Preisverfahrens verwendet und nach Abschluss des Verfahrens zurückgesendet. Alle weiteren Unterlagen werden nach Ablauf der Archivierungsfrist vernichtet.
Mit Ihrer Bewerbung akzeptieren Sie die Teilnahmebedingungen.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Eine Fachjury von Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaftlern entscheidet über die Vergabe des Preises.
Die kompletten Bewerbungsunterlagen sind bis zum 31. Juli 2018 an folgende Adresse zu senden:

Deutscher Bundestag
Fachbereich WD 1
Wissenschaftspreis
Platz der Republik 1
11011 Berlin
E-Mail: wissenschaftspreis@bundestag.de
Telefon: +49 (0)30 227 38630 bzw. +49 (0)30 227 38636
Fax: +49 (0)30 227 36464

Tagungsbericht zum Workshop Europäisierung – Forschungsfragen und Perspektiven

September 24, 2016 By: Parlamentshistoriker Category: Konferenz

Jens Weinhold hat für die Mailingliste hsozkult einen Bericht zum Workshop „Europäisierung – Forschungsfragen und Perspektiven“ verfasst, der hier mit der Erlaubnis des Autors abgedruckt wird.

Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen
Parteien (KGParl)
17.06.2016, Berlin

Bericht von Jens Weinhold, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl), Berlin

Die Berührungspunkte der historischen Parteien- und Parlamentarismusforschung mit dem überwiegend von der Politikwissenschaft bestimmten Feld der Europastudien sind bisher noch gering. Dort wo es bereits genuin historische Perspektiven auf den Prozess der europäischen Integration und im Besonderen auf die beteiligten Parteien und Parlamente gibt, wurden diese bislang oft von einigen wenigen „Einzelkämpfern“ entwickelt. Der von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) veranstaltete interdisziplinäre Workshop diente dem Zweck, die Vernetzung zwischen historisch arbeitenden Europaforschern zu fördern und sich gleichzeitig mit Vertretern der Nachbardisziplinen über Trends und Methoden der aktuellen Forschung auszutauschen. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der Identifizierung von Konzepten und Fragestellungen, die bisher von der zumeist quantitativ arbeitenden Forschung übersehen wurden und/oder vom spezifischen Kompetenzprofil der Geschichtswissenschaft profitieren könnten.

In seinen Eröffnungsworten verwies ANDREAS SCHULZ (Berlin) auf das Erkenntnisinteresse der KGParl, die sich von ihrer ursprünglichen Fokussierung auf die deutsche Geschichte gelöst habe, um Parlamentarismus in Europa in einer vergleichenden Perspektive analysieren zu können. Diese Erweiterung des Forschungsprofils mündete u. a. in der Initiierung eines Netzwerks von Instituten der historischen Parlamentarismusforschung in Europa[1] sowie eine Tagungsreihe zu „Parlamentarischen Kulturen in Europa“[2]. Als Forschungsergebnis kann man von einem historisch gewachsenen parlamentarischen Kulturraum Europa sprechen, geprägt durch gemeinsame Erfahrungen der Konvergenz von Demokratie und Parlamentarismus, den Transfer von Ideen und Institutionen sowie eine Angleichung des parlamentarischen Alltags und der Lebenswelten der Abgeordneten unter den Auspizien der Modernisierung seit dem 19. Jahrhundert. Dieser nationalstaatlich verankerte Grundstock an Vorprägungen und politischen Handlungsinstrumenten beeinflusse, so Schulz, die politische Praxis der europäischen Institutionen. Deshalb gelte es, eine Verbindung von historischer Parlamentarismusforschung und gegenwartsorientierten Europastudien herzustellen. Als Brücke zwischen diesen zumeist getrennt operierenden Forschungsfeldern biete sich ein weit gefasster Begriff von „Europäisierung“ an, der die Divergenz und Mehrdimensionalität der europäischen Einigungsprozesse in einer Langzeitperspektive erfassen könne.

ANDREAS WIRSCHING (München) vertiefte anschließend diese Überlegungen, indem er den Begriff der Europäisierung in Beziehung zur Globalisierung setzte. Er plädierte dafür, nicht von jeweils fertigen Forschungskonzepten auszugehen, sondern beide Begriffe heuristisch zur Formulierung von Thesen und Identifikation von Forschungsgegenständen und -themen zu nutzen. In diesem Sinne könne man fragen, wie Europa als weltweiter Akteur erscheint, sowohl aktiv als auch passiv, handelnd oder reagierend. Wirsching unterschied „Treiber der Globalisierung“ und „Treiber der Abschottung“, um die dialektische Beziehung von Globalisierung und Europäisierung in einer Analyse der umfassenden Liberalisierungstendenzen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen seit den 1970er-Jahren zu entschlüsseln. Als Treiber der Globalisierung nannte er die Bereiche Wirtschaft, Technik, Bildung und Forschung sowie die Massenkultur. In diesen Politikfeldern sei eine verstärkte europäische Integration als Reaktion auf die Herausforderung einer exponentiell zunehmenden globalen Verflechtung zu verzeichnen. Treiber der Abschottung gegenüber der weltweiten Verflechtung erkannte Wirsching hingegen in der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik, dem Beharren auf einem eigenen, gegen den Manchester-Liberalismus gerichteten Modell der Sozialstaatlichkeit sowie der gemeinsamen Sicherheitspolitik. Im Anschluss wurde die Hypothese diskutiert, dass sich die Attraktivität Europas aus der normativen Aufladung des europäischen Einigungsprojektes ergebe, die aber auch stets neue Abschottungstendenzen provoziere. Demokratietheoretisch gewendet bedeutet dies, dass die Grundlagen des westeuropäischen Politikmodells und damit der Europäisierung selbst mit dieser stetigen Ausdehnung unterminiert würden, da den Eliten in Brüssel und Straßburg der Kontakt zu ihrem Souverän zunehmend verlorenzugehen droht.

Nach diesen grundlegenden Explorationen des Forschungsfelds gewährten die weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer Einblicke in ihre aktuellen Forschungsprojekte. Drei wesentliche Arbeitsfelder gegenwärtiger Europastudien wurden dabei präsentiert: die Sozialisation der Europäischen Eliten im vielzitierten „Raumschiff Europa“, der eigen-sinnige Umgang von Parlamenten und Parteien mit den europäischen Integrationsschüben in den Mitgliedsstaaten sowie das Sprechen in und über Europa als Ausdruck eines gemeinsamen diskursiven Referenzraumes.

Dem ersten Themenbereich widmete sich GABRIELE CLEMENS (Hamburg) in ihrem Referat zur europäischen Außenpolitik, genauer: zur Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) zwischen 1970 und 1981. Ausgehend von der häufig aufgestellten These, dass die EPZ zur Europäisierung durch Sozialisierung der handelnden Politiker beigetragen habe, untersuchte sie, ob sich die Formen oder Wahrnehmungen von Außenpolitik durch die intensive gemeinsame Arbeit auf europäischer Ebene verändert haben. Nach der Auswertung umfangreichen internen Aktenmaterials aus Frankreich, Belgien und Großbritannien (in einem möglichst lückenlosen „process tracing“) falle das Ergebnis ernüchternd aus: Europäisierung habe sie nur in Ansätzen bei den technischen Beratern in den EPZ-Gremien beobachten können. Bei diesen haben sich teilweise gemeinsame Denkstrukturen und Problemwahrnehmung gezeigt, nicht jedoch bei den politischen Verantwortungsträgern, die in ihren Entscheidungen an den jeweiligen nationalen Eigeninteressen festhielten. In der Diskussion wurde angeregt, Gemeinschaftshandeln und nationale Prärogative nicht gegeneinander auszuspielen. Vielmehr sei Europäisierung bzw. der „Gang nach Europa“ als ein Teil des politischen Werkzeugkastens zu begreifen, dem sich die Mitgliedstaaten jeweils taktisch bedienten, wenn es ihnen zur Durchsetzung ihrer strategischen Ziele geraten erschien. Zudem würde auch eine rein machtstrategisch motivierte punktuelle Zusammenarbeit Arbeitsgrundlagen und Vertragspapiere hervorbringen, die dann wiederum Einfluss auf künftiges politisches Handeln generieren.

Aus dem Blickwinkel der historisch-politischen Anthropologie referierte KATJA SEIDEL (London) über ihre Forschungen zu Beamten der Europäischen Kommission und EU-Topjuristen. Im Zuge der Analyse des „sozialen Feldes“ (Bourdieu) dieser Funktionseliten sei deutlich geworden, dass die früheren Pauschalurteile über eine zwangsläufige „Europäisierung“ im Sinne einer Sozialisation pro Europa revisionsbedürftig seien. Zwar würden gemeinsame Erfahrungen im Zuge einer transnationalen Karriere in den EU-Institutionen für die Angehörigen dieser Elite immer mehr zur Normalität, aber selbst deren Alltagserfahrung sei stets von multiplen Rollen und polaren Abhängigkeiten und Zugehörigkeiten geprägt. Das Problem bestehe nun darin – wie in der Diskussion hervorgehoben wurde -, dass diese europäischen Kaderschmieden vom Rest der Bevölkerungen wie in einem Raumschiff abgekapselt erschienen, woraus sich zum Teil auch das aktuelle Legitimationsdefizit der Europäischen Union ergebe. Katja Seidel verwies allerdings ebenfalls darauf, dass sich etwa die Europäische Kommission auch nur deswegen etabliert habe, weil sie sich in der Konkurrenz zu anderen Akteuren erfolgreich über ihre Expertenkultur profilieren konnte.

ANDREAS MAURER (Innsbruck) benannte in seinem Vortrag weiteren Forschungsbedarf bezüglich der Frage, welche Möglichkeiten die EU-Verträge den Parlamenten der Mitgliedsstaaten einräumten, am Prozess der europäischen Integration zu partizipierten und wie stark diese genutzt würden. So habe der Vertrag von Lissabon die Interaktion der nationalen Parlamenten mit der Europäischen Kommission befördert, die Einflussmöglichkeiten gegenüber den anderen Institutionen wie Ministerrat oder Europäischem Parlament (EP) seien hingegen nur schwach ausgeprägt. Eine quantitative Auswertung der mit EU-Vorgaben befassten Vorgänge wiederum offenbare bereits große Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationalparlamenten. Hier verspräche eine hermeneutische Perspektive darauf, wie die Volksvertretungen der Mitgliedsstaaten Gestaltungspotentiale in Europa wahrnehmen und auf diese reagieren, neue Erkenntnisse.

ARON BUZOGÁNY (Berlin) referierte über den Umgang der osteuropäischen Staaten mit ihrer Integration in die Europäische Union und der Abwanderung von Entscheidungskompetenzen aus dem nationalen Rahmen „nach Europa“. Er identifizierte dabei die horizontale Kommunikation zwischen den nationalen Parlamenten als jene Handlungsebene, die bisher von den Europäischen Verträgen ebenso wie von der Europaforschung zu stark vernachlässigt worden sei. In allen Arenen des Mehrebenensystems gebe es bilaterale Interaktionen, die einer weiteren Aufarbeitung ob ihres Beitrags zur europäischen Integration harrten. In Anknüpfung an Maurer verwies Buzogány auf Ansätze der Organisationssoziologie, um zu untersuchen, wie die Parlamente Osteuropas einerseits auf die formalen Anpassungserwartungen reagierten und andererseits ihre informellen Einflussmöglichkeiten gegenüber der EU nutzten, wie sie also mit der Europäisierung umzugehen lernten. Auch das individuelle Framing von Erfahrungen mit der europäischen Integration sei hier zu nennen, denn grundsätzlich seien Europafragen für die Mehrheit der Abgeordneten, ebenso wie für ihre Wähler, oft nachrangig. In dieser Hinsicht bestehe also Nachholbedarf hinsichtlich der Responsivität der EU-Eliten gegenüber den (ausbleibenden) Wünschen und Vorstellungen ihrer Bürgerinnen und Bürger.

MARTINA STEBER (München) skizzierte die Potentiale einer europäischen Parteiengeschichte, die die Auswirkungen der europäischen Integrationsprozesse in ihren verschiedenen Phasen und vielfältigen Wirkungen herauszuarbeiten habe. Es gebe noch Forschungsbedarf bezüglich der Ausgestaltung der Europaidee(n) durch die verschiedenen Parteien sowie ihren Reaktionen auf die Herausforderung der europäischen Integration generell. Immerhin entstand hier ein neuer Möglichkeitsraum, der ideologische Orientierungspunkte veränderte und neue programmatische Antworten erforderte. Auch die Rekonstruktion der bilateralen Parteikontakte in andere Mitgliedsländer gehöre in diesen Aufgabenbereich. Eine in solcher Weise erneuerte Parteiengeschichte müsse jene dabei in ihrer Vielgestaltigkeit ernstnehmen, und die etablierten Forschungen zu den europäischen Parteifamilien über die Parteiführer hinaus auf die internen Experten, Verwaltungsapparate oder Frauen- und Jugendgruppen ausdehnen. Systematische gruppenbiographische Untersuchungen zu den europäischen Funktionseliten identifizierte sie als weiteres Forschungsdesiderat. Ein besonderes Augenmerk sei weiterhin auf die Bedeutung der Sprache im europäischen Integrationsprozess zu legen. Es gelte zu klären, inwiefern die Vielsprachigkeit der europäischen Mitgliedsstaaten die politische Zusammenarbeit beispielsweise in den Fraktionen beeinflusste oder wie politische Begriffe zwischen verschiedenen Diskurssystemen zirkulierten und dadurch neue politische Handlungsperspektiven eröffneten.

Diese allgemeine Forderung nach einer hermeneutischen Perspektive auf die Begriffsgeschichte der europäischen Integration versucht CLAUDIA WIESNER (Darmstadt / Jyväskylä) in ein konkretes Forschungsdesign zu übersetzen. Im Sinne einer conceptual history möchte sie Plenar- und Ausschussprotokolle sowie EU-Policy-Dokumente daraufhin untersuchen, welche Begriffe, Konzepte und Argumente die europäische Integration in verschiedenen Ländern vorantrieben oder veränderten. Als Fallbeispiele argumentierte sie für Deutschland und Frankreich als treibendende Kräfte der europäischen Einigung und Großbritannien als deren größten Widersacher, wobei in der Diskussion die Schwierigkeiten einer solchen Klassifizierung erörtert wurden.

INES SOLDWISCH (Aachen) steuerte den letzten Beitrag zum Themenbereich „Sprechen in und über Europa“ bei, in dem die Debatten des EP im Fokus standen. In ihrem Forschungsvorhaben soll die „Selbsterfindung Europas“ in den EU-Erweiterungsdebatten analysiert werden. Dabei gelte es zu untersuchen, inwiefern sich das generelle Wachstum an Zuständigkeiten sowie die zunehmende Stärke des EP im europäischen Machtgefüge in anderen diskursiven Strategien niederschlage. Anschließend wurde darüber diskutiert, welche Interdependenzen sich zwischen den Abgeordneten des EP und dem Ansehen der Gesamtinstitution beobachten ließen, und ob sich der Geltungsgewinn der Institution positiv auf die Attraktivität des lange Zeit ungeliebten Abgeordnetenmandats ausgewirkt habe. Soldwisch identifizierte in diesem Kontext eine wesentliche Erfolgsstrategie des EP darin, dass sich dieses zusehends immer mehr selbst als machtvoll inszeniert und weitere Kompetenzen von Rat und Kommission offensiv eingefordert habe. Der sich daraus ergebende „Habitus der Bevormundung“ habe wesentlich zu den bedeutenden Machtgewinnen des EP beigetragen, die etwa im Vertrag von Maastricht oder jüngst der informellen Beteiligung an der Bestimmung des Kommissionspräsidenten im Zuge der Europawahl 2014 deutlich geworden sind.

Den Abschluss der Fachvorträge bildete eine Präsentation über die Forschungsförderung der EU durch die Soziologin JULIA STAMM (Brüssel / Berlin), die als Fachreferentin für Geistes- und Sozialwissenschaften für das EU-Wissenschaftsnetzwerk COST (Coopération européenne dans le domaine de la recherche scientifique et technique) gearbeitet und sich mittlerweile im Wissenschaftsconsulting selbstständig gemacht hat. Sie bilanzierte anhand der bisherigen Europäischen Forschungsrahmenprogramme (FRP) die Bemühungen der Europäischen Kommission Forschung als „europäische Kernkompetenz“ zu etablieren und gab einen Ausblick auf die in Zukunft zu erwartende Wissenschaftsförderung nach Ablauf des aktuellen Programms „Horizont 2020“.

Der Workshop wurde von MARIE-LUISE RECKER (Frankfurt am Main) beschlossen, die die wesentlichen Diskussionsergebnisse des Tages zusammenfasste. Sie hob besonders hervor, dass sich „Europäisierung“ als gewinnbringendes Deutungskonzept bewährt habe, das auch in Zukunft verschiedene Forschungsperspektiven unterschiedlicher Disziplinen miteinander verbinden könne.

Aus parlamentarismusgeschichtlicher Perspektive treten drei zentrale Anforderungen zukünftiger Europaforschungen zu Tage: Erstens gilt es Kompetenzen zu bündeln; vor allem die politikwissenschaftlichen Analysen der Mehrebenenpolitik der EU stehen für einen fruchtbaren Austausch mit der Geschichte der Internationalen Beziehungen bereit. Zweitens müssen die vorhandenen Bemühungen intensiviert werden, Europäisierung auch als eine gesellschaftliche Bewegung „von unten“[3] zu verstehen und der Erfahrungs- und Wahrnehmungsdimension der nationalstaatlich geprägten Bürgerinnen und Bürgern Europas mehr Beachtung zu verschaffen.[4] Dank dieser demokratiegeschichtlichen Perspektivenerweiterung können schließlich, drittens, Kontingenzen und Ambivalenzen der europäischen Integrationsprozesse angemessener berücksichtigt werden.[5] Dabei wäre es Aufgabe der durch ihre Expertise in Quellenkritik und Kontextualisierung ausgewiesenen Geschichtswissenschaft, das dialektische Wechselverhältnis zwischen der Orientierung an Nationalstaaten und den Integrationsschüben der Staatenunion als konstitutiven Faktor der Europäisierung deutlich werden zu lassen.

Konferenzübersicht:
Andreas Schulz (Berlin), Begrüßung und Einführung
Andreas Wirsching (München), Europäisierung und Globalisierung – zwei Forschungskonzepte aus historischer Perspektive
Andreas Maurer (Innsbruck), Europäisierung der nationalen Parlamente
Gabriele Clemens (Hamburg), Europäisierung als Projekt intergouvernementaler Politik?
Aron Buzogány (Berlin), Europäisierung der Parlamente Osteuropas
Martina Steber (München), Europäisierung der Parteien
Claudia Wiesner (Darmstadt / Jyväskylä), European Integration in
British, French and German Parliamentary Debates
Katja Seidel (London), Europäische Eliten
Ines Soldwisch (Aachen), »Konstrukteure Europas«. Die Selbsterfindung des Europäischen Parlaments in den Erweiterungsdebatten der EU
1979-2013
Julia Stamm (Brüssel / Berlin), »Europäisierung der Forschung« aus der Binnensicht der europäischen Forschungsförderung
Marie-Luise Recker (Frankfurt am Main), Resümee
Moderation: Tobias Kaiser (Berlin), Thomas Raithel (München)
Anmerkungen:

[1] Vgl. European Information and Research Network on Parliamentary History, (01.08.2016).
[2] Parlamentarische Kulturen in Europa im historischen Vergleich, (01.08.2016).
[3] Vgl. zu diesem bisher vornehmlich auf Osteuropa angewandten Ansatz vor allem Ralf Roth / Karl Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009; Karl Schlögel, Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München 2013.
[4] Zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren der Europäischen Integration vgl. bspw. Jan-Henrik Meyer / Wolfram Kaiser (Hrsg.), Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-Making 1958-1992, Oxford 2013. Vgl. die Rezension von Jens Ruppenthal, in: H-Soz-Kult, 19.09.2013, (01.08.2016).
[5] Vgl. ebenso etwa die Rezension von Mathias Haeussler zu: Johnny Laursen (Hrsg.), The Institutions and Dynamics of the European Community, 1973-83, Baden-Baden 2013, in: H-Soz-Kult, 20.05.2016, (01.08.2016); sowie das Programm des an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt an der Oder) angesiedelten Forschungsprojektes „Ambivalenzen der Europäisierung“: (01.08.2016).

Bericht zur Tagung „Parlamentarismuskritik und Antiparlamentarismus in Europa“

September 01, 2016 By: Parlamentshistoriker Category: Konferenz

Tobias Kaiser und Jurij Perovsek haben für die Mailingliste hsozkult einen Bericht zur Tagung „Parlamentarismuskritik und Antiparlamentarismus in Europa“ verfasst, der hier mit der Erlaubnis der Autoren abgedruckt wird.

Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl); European Information and Research Network on Parliamentary History (EuParl.net)
7.5.2015-8.5.2015, Berlin

Bericht von Jurij Perovsek, Institute of Contemporary History, Ljubljana; Tobias Kaiser, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl), Berlin

Der moderne Parlamentarismus wurde von seiner Entstehung an von Kritik und Gegnerschaft begleitet, die sowohl die Idee als auch die Institutionen betreffen konnten. Deshalb sind antiparlamentarische Strömungen oder Parteien ein durchaus häufig behandeltes Thema der Parlamentarismusforschung, zumeist fokussiert auf bestimmte Epochen oder einzelne Staaten. Auf der Tagung, die die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) organisiert hat, sollten diese klassischen Forschungen aufgegriffen und bilanziert werden. Vor allem jedoch ging es darum, andere und neue Akzente zu setzen, die als Diskussionsangebot einer stärker kulturgeschichtlich orientierten Parlaments- und Parteienforschung zu verstehen sind.

Zum einen stand deshalb der internationale Vergleich im Vordergrund der Tagung, die in den Rahmen des „European Information and Research Network on Parliamentary History“[1] eingebunden und damit Teil eines schon bestehenden kommunikativen Austauschs internationaler Parlamentarismusforscher war. Zum anderen stellte sich die Tagung die Aufgabe, die übliche Differenzierung nach politischen Lagern zur Diskussion zu stellen und nach der Konsistenz übergreifender Argumente und Bilder in einem transnationalen Diskurszusammenhang zu fragen. Europa bildete, so eine Ausgangsüberlegung, von Beginn an einen weitgehend einheitlichen Resonanzraum parlamentarischer Kritik.

In der ersten Sektion der Tagung ging es vor allem um den Gegensatz zwischen einem ideal konzipierten Parlament und der tatsächlichen parlamentarischen Praxis. Wie MARIE-LUISE RECKER (Frankfurt am Main) in der Einleitung zur Konferenz hervorhob, wird dieser Gegensatz bereits durch die Persistenz eines antiparlamentarischen Diskurses in Europa veranschaulicht. Darüber sprach in der Keynote der Konferenz auch JEAN GARRIGUES (Orléans), der derzeit wohl profilierteste Parlamentarismushistoriker Frankreichs, dessen Beitrag die bisherige Forschung bilanzierte und anhand des französischen Beispiels vertiefte. Der Antiparlamentarismus begann mit der Französischen Revolution und entwickelte sich auf einer Ebene des aristokratischen Widerstands gegen Demokratie und republikanische Idee, der Nichtanerkennung der Legitimität der parlamentarischen Vertretung, des Misstrauens gegenüber neuen sozialen und politischen Eliten sowie der Missachtung von Wahlen und deren Ergebnissen.

PAUL FRIEDLAND (New York) und NICOLAS ROUSSELLIER (Paris) griffen ebenfalls das französische Beispiel auf, wobei Friedland explizit die Entstehung antiparlamentarischer Metaphern während der Französischen Revolution benennen konnte, wurde doch die Nationalversammlung als ein Gremium politischer Schauspieler gesehen, die sich einbildeten, etwas zu sein, was sie nicht waren. Friedland stellte den Antiparlamentarismus der Exekutive besonders heraus. Roussellier verwies auf die Kontinuitäten antiparlamentarischer Haltungen im 19. und 20. Jahrhundert, die sich aus dem allgemeinen antiparlamentarischen Repertoire der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts speisten.

Zur Konzeption der Tagung gehörte es, nicht bei einer chronologischen Abfolge oder einer regionalen Zuordnung zu verharren, sondern die oft erstaunlichen Gemeinsamkeiten der antiparlamentarischen Stereotype zu betrachten. Deshalb passte es gut, dass ADÉLA GJURÍCOVA (Prag) den Blick auf Ostmitteleuropa und auf das Ende des 20. Jahrhunderts lenkte. Sie zeigte, dass ausgerechnet Václav Havel, der erste frei gewählte Präsident der Tschechischen Republik, eine parlamentskritische, ja antiparlamentarische Haltung an den Tag legte, die in der Forschung und der öffentlichen Diskussion gerne übersehen wird. Diese Position Havels erklärt sich aus der vor 1989/90 in der Dissidentenbewegungen Ostmitteleuropas weit verbreiteten, so genannten „antipolitischen Politik“, die ihren Ausdruck in bewusst distanzierten „unpolitischen“ Agitationsformen fand und für die Oppositionellen von Bedeutung war, um einen gesellschaftlichen Aktivismus aufrechtzuerhalten. Im „antipolitischen“ Bestreben, einen Systemwandel herbeizuführen, fehlte aber eine parlamentarische Idee. Das kennzeichnete auch Havels Präsidentschaft der postkommunistischen Zeit. Dieser kritisierte systematisch das Parlament, das ihm zu langsam und zu unentschlossen erschien und das – anstatt des Volkswillens – vor allem die Interessen der einzelnen politischen Parteien vertrete. Havel mobilisierte die Öffentlichkeit gegen das Parlament und übte Druck auf Abgeordnete aus. Da er sich zudem bemühte, die Macht des Präsidenten gegenüber dem Parlament systematisch auszubauen, zeigt sich auch hier eine Form der Parlamentskritik durch die Exekutive.

G-Parl-Tagung �ber Antiparlamentarismus Gjuricova

Im Abschnitt „Medien und Arenen“ nahm THEO JUNG (Freiburg) die Tatsache, dass Parlamentarismuskritik und Antiparlamentarismus auch innerhalb des Parlaments selbst geäußert werden konnten, zum Anlass, das Parlament als Bühne der Kritik in den Blick zu nehmen. Er wählte als Beispiel den Reichstag des Deutschen Kaiserreichs und knüpfte vor allem an neuere kulturgeschichtliche Fragestellungen an, in denen es sowohl um die Wahrnehmung des Reichstags in der Öffentlichkeit geht, als auch um die Frage, in welchem Ausmaß die Abgeordneten über die Parteigrenzen hinaus einen „Esprit de corps“ entwickelten. Vor diesem Hintergrund untersuchte Jung, in welchem Maße außerparlamentarische Parlamentarismuskritik ihren Weg in den Reichstag fand und machte zunächst auf das Paradox aufmerksam, dass zahlreiche Abgeordnete an der Legitimität des Parlaments zweifelten. Sie forderten aber zumeist einen „wahren Parlamentarismus“, traten also für die Verbesserung des weitgehend akzeptierten parlamentarischen Prinzips ein, während sich ein systemfeindlicher Antiparlamentarismus im Parlament weniger fand.

Dieser entdeckte im 20. Jahrhundert stattdessen zunehmend die Straße als politischen Raum. THOMAS LINDENBERGER (Potsdam) stellte diese Arena der Politik in einem das 20. und frühe 21. Jahrhundert umfassenden Längsschnitt vor. Ausgehend von dem von Lindenberger mitentwickelten Konzept „Straßenpolitik“ machte er unterschiedliche Dimensionen der Konfliktaustragung deutlich: zum einen eine auf Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Ruhe ausgerichtete Politik „von oben“ mit allen politischen und kulturellen Folgen eines solchen Handelns; zum anderen die „von unten“ zum Ausdruck gebrachten politischen Positionen, die sich seit dem späten Kaiserreich in der Form moderner Straßendemonstrationen zeigten.

BARBARA WOLBRING (Frankfurt am Main) thematisierte die Rolle der Massenmedien als „Bühne und Tribunal“ des Parlamentarismus und begann ihre kritischen Überlegungen mit einer Zusammenstellung typischer parlamentarismuskritischer Klischees über den heutigen Bundestag. Sie stellte fest, dass die politische Debatte vom Parlament in die Fernsehtalkshows umgezogen sei, wo Politiker, Journalisten, unterschiedliche Interessensvertreter und Wissenschaftler über öffentliche Angelegenheiten in zahlreichen Sendungen diskutierten. Es gelte, sowohl über den Ortswechsel politischer Diskussion und deren Dauer als auch über die kategoriale Verschiebung der Politik nachzudenken, d.h. deren Anpassung an den Massengeschmack, der nur für das Fernsehen geeignete politische Schlagwörter akzeptiere, statt einen argumentativ begründeten Diskurs zu komplexen politischen Themen zu ermöglichen.

Bestandteil der Tagung war auch ein auf aktuelle Formen der Parlamentarismuskritik eingehender, persönlicher und weitgehend frei gehaltener Beitrag des Bundestagspräsidenten NORBERT LAMMERT am Ende des ersten Tages, der die Tagungsteilnehmer (und vor allem auch die ausländischen) sehr ansprach. Als einen wichtigen aktuellen Diskussionspunkt benannte Lammert die gesunkene Wahlbeteiligung, wobei er dazu aufrief, diese nicht per se als Zeichen des Antiparlamentarismus zu sehen und die womöglich berechtigte Kritik an konkreten Politikern nicht gleichzusetzen mit einer angeblichen, aber bei genauer Analyse nicht vorhandenen Ablehnung des parlamentarischen Systems. Damit gab er JAMES RETALLACK (Toronto) das Stichwort, der in seinem Vortrag die Kategorie des Nichtwählers untersuchte. Am Beispiel der sächsischen Wahlen in den Jahren 1867 bis 1918 zeigte er, dass die Nichtwähler keineswegs freiwillig „demokratische Abstinenz“ praktizierten (so wie ein Trinker, der einem Gasthaus ausweicht), sondern auf die ausschließende Praxis eines autoritären Staates reagierten und Protest gegen Zensuswahlrecht und indirekte Wahlen übten. Wie Lammert warnte er also davor, Nichtwählen mit der Ablehnung des parlamentarischen Systems gleichzusetzen.

KG-Parl-Tagung Vortrag von Bundestagspr�sident Lammert

Retallacks Vortrag eröffnete die dritte Sektion der Tagung „Akteure und Praktiken“, in der die politische Choreographie und die symbolischen Formen antiparlamentarischer Inszenierungen zur Diskussion standen. Gerade radikale Akteure setzten auf nicht-diskursive Strategien der Öffentlichkeitswerbung durch monologische Ansprachen, symbolische Kommunikation und emotionale Massenmobilisierung. Den technischen Möglichkeiten der jeweils genutzten Medien kam hierbei große Bedeutung zu. Antiparlamentarische Kritik musste sich den Strukturen und Logiken unterschiedlicher Mediensysteme anpassen. Eine der wirkmächtigen Formen der Verbreitung politischer Kommentierungen ist seit Bestehen einer modernen Öffentlichkeit die Karikatur, die Ausdruck des Antiparlamentarismus sein kann. ANDREAS BIEFANG (Berlin) stellte dieses Medium vor, wobei er das Motiv eines dem Wähler zugewandten – zumeist blanken – Hinterns als Beispiel herausgriff, das eine lange Tradition hatte und damit vom Betrachter schnell eingeordnet werden konnte. Im 18. Jahrhundert wurde es erstmals in Großbritannien für Parlamentarier verwendet; seit den 1830er-Jahren wurde auf diese Art und Weise das kritische Verhältnis gegenüber dem Parlament auch in Frankreich und Deutschland ausgedrückt.
Dass Akteure der Parlamentarismuskritik auch im Parlament sitzen konnten, nahm BENJAMIN CONRAD (Mainz) zum Anlass, die Obstruktion als eine spezielle Praxis zu untersuchen. Dabei nahm er die Strategien fundamentaloppositioneller Parlamentarier nationaler Minderheiten im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit vergleichend in den Blick und zwar in Lettland, Polen und der Tschechoslowakei. Die Strategien und Methoden derjenigen Abgeordneten, die mit ihrer Haltung Widerstand gegen einen fremdnationalen Staat leisteten, waren bewusste Inszenierungen, die auf die Öffentlichkeit der eigenen Wählergruppe zielten. Zu diesen symbolischen Handlungen gehörten der Boykott parlamentarischer Abläufe, das Stören von Sitzungen durch Singen von Liedern oder das Reden in der eigenen Sprache, die die Mehrheit der Parlamentarier zumeist nicht verstand.

Dass die Zwischenkriegszeit für das Thema besonders interessant sein kann, bestätigte auch PASI IHALAINEN (Jyväskylä), der in seinem konsequent vergleichend angelegten Beitrag die Diskussionen um den Parlamentarismus in Schweden und Finnland während und nach dem Ersten Weltkrieg analysierte. Die Politiker dieser Länder bewerteten den Parlamentarismus jeweils im Verhältnis zum westlichen (britischen und französischen) parlamentarischen System sowie dem deutschen und bolschewistischen Antiparlamentarismus. In Finnland bezogen sich Kritiker des Parlamentarismus auf den Gegensatz zwischen Erwartungen und Realität des parlamentarischen Lebens, vor allem angesichts der Hoffnungen auf tiefgreifende parlamentarische Reformen im Jahre 1906, die „die demokratischste Volksvertretung in der Welt“ verbreiten sollte. Die finnische und die schwedische Linke wurden durch das deutsche linksgerichtete Verständnis des Parlamentarismus beeinflusst, das bis zur Ablehnung des „bürgerlichen“ Parlamentarismus gehen konnte und sogar in den ersten Jahren Ideen eines bewaffneten Aufstands umfasste. Unmittelbar nach dem Jahr 1918 wurde in den beiden Staaten der „westliche“ bzw. „bürgerliche“ Parlamentarismus dann allerdings nur von der extremen Linken abgelehnt.

Nach diesem letzten thematischen Beitrag wurde die Tagung durch ein ausführliches Resümee von ANDREAS SCHULZ (Berlin) abgeschlossen. Er betonte, dass die Parlamentarismuskritik in Europa häufig die Verwirklichung der „wahren“ Demokratie forderte und nur selten destruktiv angelegt war, was auch für die Praxis der Obstruktionsparteien gelte. Andererseits aber seien auch extremistische Parteien im Parlament vor Strafsanktionen geschützt gewesen und – trotz ihrer radikalen Kritik des Systems und der undemokratischen Rhetorik – dem integrativen Sog des Parlamentarismus ausgesetzt. Ähnliches gelte auch für die Straße als Raum der Parlamentarismuskritik, obwohl das aktivistische Versammeln von Massen dem repräsentativen Prinzip widersprach. Der öffentliche Raum sei aber, so Schulz, selten ein Ort des Bürgerkriegs gewesen, sondern eher ein Symbol und ein Bereich der demokratischen Öffentlichkeit. In diesem Sinne komme es zu gegenseitigen Einflüssen zwischen der Demokratie auf der Straße und dem Parlament. Die Wahlabstinenz sei, so Andreas Schulz, ein „Normalfall“ systemimmantener Parlamentarismuskritik. Denn immerhin sei die demokratische Legitimität eines gewählten Parlaments per definitionem von der Wahlbeteiligung abhängig, weshalb zwischen der temporären „demokratischen Abstinenz“, dem Desinteresse an Politik an sich und einer prinzipiellen Ablehnung der Wahl unterschieden werden müsse. Besonders in den Blick nahm Schulz den Antiparlamentarismus der Exekutive, der in einigen Vorträgen eine Rolle spielte und prinzipielle Fragen der Machtverteilung eröffnet. Auch die veränderte Medienöffentlichkeit, die dramatisch den Druck auf die gewählten Volksvertreter im Hinblick auf Glaubwürdigkeit und Kommunikativität erhöht hat, wurde von ihm besonders betont. Seinen Beitrag zur Konferenz beendete Schulz mit der Erinnerung an den europäischen Referenzraum, in dem die Geschichte der parlamentarischen Kritik in Europa komplementärer Teil der Geschichte des europäischen Parlamentarismus sei.

Das Thema der Tagung eignet sich besonders gut für eine vergleichende Parlamentarismusforschung, in der Prinzipien und Standards parlamentarischer Systeme im neuzeitlichen Europa untersucht werden, da die Grundspannung zwischen Idealparlamentarismus und Praxiserfahrung als allgemeines Phänomen des Parlamentarismus genauer konturiert werden konnte. Opposition und Kritik begleiteten die Parlamentarisierung der europäischen Nationalstaaten von Beginn an; Parlamente sahen sich stets einer prinzipiellen Gegnerschaft ausgesetzt. Die Argumente und oppositionellen Praktiken der Gegenkräfte glichen sich oft auf verblüffende Weise.

Konferenzübersicht:
Marie-Luise Recker (Frankfurt am Main), Einführung in die Tagung
Jean Garrigues (Orléans), Keynote: Criticism of Parliamentarism and Anti-parliamentarism in Europe
1. Argumente und Bilder – Moderation: Remieg Aerts (Nijmegen)
Paul Friedland (Cornell, NY), „The Assembly that Pretends to be National“: Anti-Theatricality and Anti-Parliamentarism in Revolutionary France
Nicolas Roussellier (Paris), The impact of a repertoire: anti-parliamentarian attitudes in the French Republican experience
Adéla Gjurícova (Prag), Anti-politics and anti-parliamentarism: Václav Havel and the Czechoslovak parliament in the 1990s
Abendvortrag und offene Diskussion mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (Berlin)

2. Medien und Arenen der Kritik – Moderation: Carla van Baalen (Nijmegen)
Theo Jung (Freiburg), Das Parlament als Bühne der Kritik
Thomas Lindenberger (Potsdam), Die Straße als Politik-Arena im langen 20. Jahrhundert
Barbara Wolbring (Frankfurt am Main), Massenmedien als Bühne und Tribunal. Das Parlament in der Mediendemokratie

3. Akteure und Praktiken des Anti-Parlamentarismus – Moderation: Janko Prunk (Ljubljana)
James Retallack (Toronto), The Non-Voter: Rethinking the Category
Andreas Biefang (Berlin), „Kiss my rump“ – Zur Geschichte einer anrüchigen Bildfindung der Parlamentskritik
Benjamin Conrad (Mainz), Opposition durch Obstruktion: Zu den Strategien von Parlamentariern der nationalen Minderheiten im Polen und Lettland der Zwischenkriegszeit
Pasi Ihalainen (Jyväskylä), Royalists, republicans, revolutionaries: Criticism of parliamentarism in Swedish and Finnish debates and practices in comparison with Britain, Germany and Russia, 1917-19

Andreas Schulz (Berlin), Bilanz der Tagung

Anmerkung:
[1] European Information and Research Network on Parliamentary History,

Deutscher Bundestag schreibt Wissenschaftspreis für das Jahr 2017 aus

April 22, 2016 By: Parlamentshistoriker Category: Bundestag

2017 wird der Deutsche Bundestag wieder einen Wissenschaftspreis verleihen. Er würdigt hervorragende wissenschaftliche Arbeiten der jüngsten Zeit, die zur Beschäfti­gung mit den Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen. Der Preis, vom Deutschen Bundestag 1989 aus Anlass seines 40jährigen Bestehens begründet, wird seit 1997 im zweijährlichen Turnus verliehen.
Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.

Für eine Bewerbung gelten folgende Regelungen:
Wissenschaftliche Arbeiten können sowohl vom Autor / von der Autorin selbst als auch durch Dritte vorgeschlagen werden. Die Werke müssen in dreifacher Ausfertigung und nach Abschluss der gegebenenfalls vorangegangenen akademischen Verfahren eingereicht werden. Der Bewerbung ist ein Lebenslauf beizufügen. Berücksichtigt werden nur bereits publizierte Arbeiten, die seit dem 1. Juni 2014 erschienen sind.

Eine Fachjury aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachgebiete entscheidet über die Vergabe des Preises.
Die kompletten Bewerbungsunterlagen sind bis zum 30. Juli 2016 an folgende Adresse zu senden:

Deutscher Bundestag
Fachbereich WD 1
Wissenschaftspreis
Platz der Republik 1
11011 Berlin
E-Mail: vorzimmer.wd1@bundestag.de
Telefon: +49 (0)30 227 38629 bzw. +49 (0)30 227 38630
Fax: +49 (0)30 227 36464

Aufruf für Beiträge zur Konferenz „Speaking in Parliament: history, politics, rhetoric“

November 12, 2015 By: Parlamentshistoriker Category: Forschungsinstitut, Konferenz, Parlamentsrede

Das britische Forschungsinstitut History of Parliament und die Queen Mary University of London veranstalten am 6./7. April 2016 eine Konferenz für alle Wissenschaftler, die sich mit der parlamentarischen Rede in Vergangenheit und Gegenwart befassen.
Der Call for Papers ruft Interessenten auf, bis zum 30. November 2015 ihre Vorschläge einzusenden..

Vergabe des Wissenschaftspreises der Margaretha Lupac-Stiftung 2015

August 11, 2015 By: Parlamentshistoriker Category: Europa, Forschungsinstitut

Das österreichische Parlament teilt mit:

Der Wissenschaftspreis der Margaretha Lupac-Stiftung 2015 geht an Karin Liebhart, Tamara Ehs und Christina Ortner. Mit dieser einstimmigen Entscheidung folgte das Kuratorium der Margaretha Lupac-Stiftung in seiner heutigen Sitzung dem Vorschlag der fünfköpfigen Jury. Karin Liebhart und Tamara Ehs erhalten den Wissenschaftspreis in Anerkennung für ihr bisheriges wissenschaftliches Gesamtwerk. Christina Ortner wird für die kürzlich erschienene Publikation „Wie junge Erwachsene die EU sehen und was die Medien dazu beitragen“ ausgezeichnet.

„Der Wissenschaftspreis 2015 ist weiblich“, freut sich die Vorsitzende des Stiftungs-Kuratoriums, Nationalratspräsidentin Doris Bures, über die Entscheidung der Jury, „drei herausragende Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Generationen und deren Arbeit vor den Vorhang zu holen“. Die ausgezeichneten Wissenschaftlerinnen repräsentieren die Vielfalt und Vielfältigkeit wissenschaftlicher Arbeit in Österreich. Sie stehen für eine fächerübergreifende und thematisch vielfältige Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen. Sie stehen aber auch für wissenschaftliche Karrieren im Rahmen drittmittelfinanzierter gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. Der Margaretha Lupac-Wissenschaftspreis wird am 30. November 2015 im Rahmen eines Festaktes im Parlament vergeben.

Karin Liebhart: Demokratisierungs- und Transformationsforschung

PDin Mag.a Dr.in Karin Liebhart hat sich 2007 mit dem Thema „Nationale und internationale Gedächtnispolitiken nach 1989“ für das Fach Politikwissenschaft habilitiert. Die Privatdozentin arbeitet in ihren Forschungen disziplinübergreifend an grundlegenden Fragen der österreichischen Demokratie in europäischer und vergleichender Perspektive. So setzt sie sich mit politischer Kommunikation, mit Rechtspopulismus und Antipluralismus ebenso auseinander wie mit europäischen politischen Systemen und Kulturen oder mit Fragen der Gender Studies um nur wenige herauszugreifen. Sie bearbeitet diese Themen nicht nur in ihrer meist drittmittelfinanzierten Forschung sondern auch in ihrer Lehrtätigkeit an österreichischen und internationalen Universitäten, zuletzt als Visiting Professor an der University of New Orleans. Aber auch zivilgesellschaftlich ist sie seit Jahren z.B. in der Gesellschaft für politische Aufklärung aktiv.

Tamara Ehs: Verbindung von Rechts- und Politikwissenschaft

Mag.a Dr.in Tamara Ehs steht für eine rechtswissenschaftlich und historisch orientierte kritische Politikwissenschaft. Sie kann so die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, der Organisation der Staatsgewalten und der Politik aufzeigen. Ihre Schwerpunkte liegen daher u.a. in Fragen zu Politik und Verfassung, rechtspolitischen und historischen Grundlagen der europäischen Integration, österreichischen Staats- und Demokratietheorien (insb. Hans Kelsen) sowie der Theorie und Praxis postnational(istisch)er Staatlichkeit. Auch sie verbindet ihre Forschungs- und Publikationstätigkeit mit der universitären Lehre und zivilgesellschaftlichem Engagement indem sie sich als Expertin aktiv einbringt wie z.B. in der Enquete-Kommission des Nationalrates zur „Stärkung der Demokratie in Österreich“. Derzeit bekleidet sie eine Post-doc Stelle am Institut für Rechts-und Sozialgeschichte der Universität Salzburg (Projekt finanziert durch den Jubliäumsfonds der Österreichischen Nationalbank)

Christina Ortner: junge Erwachsene, EU und Medien

Die ausgezeichnete Publikation von Mag.a Dr.in Christina Ortner erlaubt vielseitige Einblicke in die Sichtweisen der 20- bis 30-Jährigen zur Europäischen Union und wie sie diese entwickeln. Neben Familie und Schule/Ausbildungsplatz bilden die Medien eine zentrale Informationsquelle, wobei der ORF und die Kronen-Zeitung hier am wichtigsten sind. Die Kommunikationswissenschaftlerin verweist in ihrer Studie auf die zentrale Rolle politischer Bildung. „Wenn LehrerInnen ein Grundverständnis der EU vermitteln, sind junge Menschen im späteren Leben interessierter, aufgeschlossener und kompetenter“, gibt sie zu bedenken. Das ist umso wichtiger als die Mehrheit der Jungen wenig an der EU interessiert ist und sich dementsprechend schlecht informiert fühlt. Es erscheint ihr daher aufgrund der vorliegenden ausgezeichneten Quellenlage essenziell, dass die politische Bildung für dieses Thema in allen Ausbildungsstufen intensiviert wird, damit die Anzahl der kritischen aber begeisterten EuropäerInnen steigen kann.

Die Preisträgerinnen wurden dem Stiftungs-Kuratorium von einer fünfköpfigen Jury unter dem Vorsitz von em.Univ.-Prof. DDr. Manfried Welan empfohlen, die sich aus Persönlichkeiten aus den Bereichen Justiz, Wissenschaft und Medien zusammensetzt: Dr. Brigitte Bierlein, Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes, Univ.-Prof. Dr. Sonja Puntscher Riekmann, Salzburg Centre of European Union Studies, Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, Institut für Zeitgeschichte, Wien und Dr. Alexander Wrabetz, Generaldirektor des ORF.

Konferenz über Herausforderungen des Parlamentarismus im 19. und 21. Jahrhundert

Mai 01, 2015 By: Parlamentshistoriker Category: Bundestag, Europa, Konferenz

Die Volkswagen-Stiftung finanziert eine Nachwuchsgruppe zu dem Thema “Was machen eigentlich Parlamente?” unter der Leitung von Michael Koß. In der Kurzbeschreibung wird das Forschungsinteresse formuliert:

Erleben wir aktuell einen Niedergang, eine Renaissance oder schlicht eine Kontinuität des Parlamentarismus? Wie lassen sich Parlamente überhaupt systematisch und über lange Zeiträume vergleichen? Diese Fragen sollen in dem Projekt durch eine Analyse der Agendamacht von Parlamenten beantwortet werden. Über Agendamacht verfügt, wer die parlamentarische Tagesordnung beeinflussen kann und die dazu nötigen (organisatorischen) Ressourcen besitzt. Ziel des Projekts ist ein in den 1860er Jahren ansetzender Langzeitvergleich der parlamentarischen Agendamacht in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Schweden. Dabei sollen Informationen darüber gesammelt werden, „was Parlamente machen“, womit sie also ihre Zeit verbringen und wofür sie ihre Ressourcen einsetzen.

Grundsätzlich können parlamentarische Zeit und Ressourcen unter drei Gesichtspunkten verteilt werden, um nämlich die parlamentarische Legitimität, Effektivität oder die Effizienz zu steigern. Im Mittelpunkt des Langzeitvergleichs steht die Frage, ob diese drei Ziele gleichzeitig erreicht werden können oder ob Zielkonflikte zwischen ihnen bestehen, parlamentarische Akteure also notwendigerweise zu Kompromissen gezwungen sind. Auf der konzeptionellen Ebene kombiniert das Projekt die wichtigsten Spielarten des neuen Institutionalismus miteinander und trägt gleichzeitig dem „historical turn“ in der vergleichenden Politikwissenschaft Rechnung.

Die Nachwuchsgruppe organisiert einen Internationaler Workshop, der am 11. und 12. Juni 2015 im Center for Advanced Studies der LMU München stattfinden wird:

Angesichts der zunehmenden Internationalisierung und Europäisierung durchlaufen Parlamente im beginnenden 21. Jahrhundert eine grundlegende Transformation, die häufig als Krise und Machtverlust beschrieben wird. Auch wenn dies in der Rückschau gern übersehen wird, wurde die Parlamentarisierung, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert auf der nationalstaatlichen Ebene vollzog, ähnlich kritisch betrachtet. Die Leitfrage des Workshops lautet deshalb, welche Lehren aus den Erfahrungen des 19. (und 20.) Jahrhunderts für die Parlamentarisierung der supranationalen Ebene gezogen werden können. Ziel des Workshops ist die dringend notwendige interdisziplinäre Verständigung über die wichtigste demokratische Institution.

Dies ist das Programm:
12.30-13.30 Uhr Auftakt mit einem gemeinsamen Mittagessen
13.30 – 14.00 Uhr Michael Koß: Begrüßung und Einführung in das Thema des Workshops
Panel 1: Der parlamentarische Umgang mit Demokratisierungsforderungen im 19. Jhd.
14.00 – 15.30 Uhr
Andreas Biefang (KGParl Berlin): Kann man ein Volk repräsentieren? Zentrale Begriffe und Konfliktfelder der Demokratiegeschichte im 19. Jahrhundert
Christoph Schönberger (Konstanz): Parlamentarisierung des Deutschen Reiches um 1900 und Parlamentarisierung der Europäischen Union heute – Perspektiven eines Vergleichs
Diskutant: André Kaiser (Köln)
15.30 – 16.00 Uhr Kaffeepause
Panel 2: Kontinuität und Wandel im 20. Jahrhundert
16.00 – 17.30 Uhr
Ulrich Sieberer (Konstanz): Lehren aus Weimar? Die erste Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1951 zwischen Kontinuität und Reform
Michael Koß (LMU München): Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Die Reform der parlamentarischen Abläufe in Frankreich 1958 und in der Weimarer Republik
Diskutant: Martin H. Geyer (LMU München)
18.00 – 19.30 Uhr
Daniel Ziblatt (Harvard): Keynote: Why parliamentarism was resilient in the United Kingdom, but not in Germany
20 Uhr Gemeinsames Abendessen der Teilnehmer des Workshops

Freitag, 12. Juni 2015
Panel 3: Parlamentarische Versammlungen und Europäisches Parlament: Die supranationale Ebene
9.00 – 10.30 Uhr
Veronika Ohliger (LMU München): Parlamentarisierung jenseits von Nationalstaaten und EP: Die Parlamentarische Versammlung des Europarates
Andreas Maurer (Innsbruck): Das Europäische Parlament im Spannungsfeld von Politisierung und parlamentarischer Autonomie
Diskutant: Berthold Rittberger (LMU München)
10.30 – 11.00 Uhr Kaffeepause
Panel 4: Parlamente und Europäisierung: Die (trans)nationale Ebene
11.00 – 12.30 Uhr
Sandra Kröger (Exeter): Die Rolle nationaler Parlamente und Parteien im Multiebenensystem der EU
Katrin Auel (IHS Wien): Integrationsverlierer, wachsame Kontrolleure oder Sand im Getriebe? Nationale Parlamente in der EU
Diskutant: Thomas Raithel (IFZ München)
12.30 – 13.30 Uhr Mittagessen
Panel 5: Was nützen Regeln ohne Ressourcen? Über die organisatorische Perspektive parlamentarischer Macht
13.30 – 15.00 Uhr
Sabine Kropp (FU Berlin): Führen alle Wege nach Brüssel? Informale Regierungskontrolle nationaler Parlamente in EU-Politiken
Anna-Lena Högenauer (Luxemburg): Parlamentarische Kontrolle von EU-Politik: Machen Verwaltungskapazitäten einen Unterschied?
Diskutant: Klaus H. Goetz (LMU München)
15.00 – 15.30 Uhr Kaffeepause
Panel 6 (Abschlussdiskussion)
15.30 – 17.00 Uhr Post- oder Neoparlamentarismus? Oder alter Wein in neuen Schläuchen? Herausforderungen des Parlamentarismus im 21. Jahrhundert
Sabine Kropp, Christoph Schönberger, Martin H. Geyer
Moderation: Michael Koß

Fragen an Stefan Marx zu seiner Edition über den Kreßbronner Kreis

März 23, 2014 By: Parlamentshistoriker Category: Bücher, Bundestag, Quelle

Kre�bronner Kreis

Stefan Marx, mein früherer Kollege bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, hat im letzten Jahr eine Edition über den Kreßbronner Kreis, den Koalitionsausschuss der ersten Großen Koalition 1966-1969, veröffentlicht.

Die Protokolle des Koalitionsausschusses der ersten Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD, bearbeitet und eingeleitet von Stefan Marx (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 63), Düsseldorf 2013.
ISBN 978-3-7700-1914-4 , 301 Seiten, 39,00 €







Auf der Homepage der Konrad-Adenauer-Stiftung wird die Edition mit den Worten vorgestellt:

”Dieser Koalitionsausschuss entwickelte sich in den knapp zwei Jahren seines Bestehens zum zentralen Koordinierungsgremium zwischen der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen und Parteien. Die maßgeblichen Vertreter der drei Koalitionsparteien versammelten sich in dem Kreis: Die Parteivorsitzenden, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, Bundesaußenminister Willy Brandt und Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, und die Vorsitzenden der beiden Regierungsfraktionen mit ihren ersten Stellvertretern, Rainer Barzel, Helmut Schmidt, Richard Stücklen und Alex Möller, sowie der stellvertretende Vorsitzende der SPD und Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner.
Alle wesentlichen Sachfragen, mit denen sich das Kabinett der Großen Koalition beschäftigte, hat der Kreßbronner Kreis zuvor behandelt. Die Reform des Wahlrechts und die Frage der Verjährung von Mord und Völkermord standen hier ebenso auf der Tagesordnung wie die Finanzverfassungsreform, der Atomwaffensperrvertrag und die Deutschland- und Ostpolitik. Auch befasste sich der Koalitionsausschuss mit der heftig umstrittenen Notstandsgesetzgebung, dem Verkehrspolitischen Programm der Bundesregierung, besser bekannt als Leber-Plan, dem Tagungsort der Bundesversammlung 1969 oder der Frage einer Aufwertung der D-Mark.“


Da Stefan Marx bereits die Sitzungsprotokolle der CDU/CSU-Fraktion 1966 bis 1969 bearbeitet hat, gehört er zu den besten Kennern der ersten Großen Koalition. Aufgrund des Zustandekommens der dritten Großen Koalition Ende 2013 nimmt das Interesse am Koalitionsmanagment der ersten Großen Koalition wieder zu.
Ich habe ihm daher einige Fragen gestellt.

Geschichte von Koalitionsausschüssen
Gibt es ein eindeutiges Kriterium, um zwischen einem Koalitionsausschuss und anderen Formen der informellen Zusammenarbeit zwischen Koalitionspartnern zu unterscheiden?
Das erfolgreiche Zusammenwirken in einer Koalitionsregierung setzt ein funktionierendes Koalitionsmanagement voraus. Als Koordinations- und Entscheidungsgremium kommt dabei dem Koalitionsausschuss, wie er sich seit dem Kreßbronner Kreis, der Mutter aller Koalitionsausschüsse, entwickelt hat, zentrale Bedeutung zu. Hier – und das zeichnet ihn im Vergleich zu anderen Formen informeller Zusammenarbeit aus – wirken die maßgeblichen gouvernementalen, parlamentarischen und parteilichen Kräfte einer Koalition zusammen, was den Beschlüssen des Koalitionsausschusses faktische Verbindlichkeit verleiht.

Welche Beispiele für Koalitionsausschüsse gab und gibt es in der deutschen Geschichte? Gab es in der Weimarer Zeit kein vergleichbares Gremium?
Koalitionsausschüsse sind, wie Adolf Schüle bereits in den 1960er Jahren feststellte, „eine eingefahrene Begleitinstitution parlamentarischer Koalitionen“ – und zwar nicht erst in der Regierungspraxis der Bundesrepublik Deutschland. Bereits in der Weimarer Republik gab es Koalitionsausschüsse als Form informeller Zusammenarbeit. Ein Beispiel ist der Interfraktionelle Ausschuss, der während der zweiten „Bürgerblock“-Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Marx vor allem als Clearingstelle zur Entschärfung koalitionsinterner Konflikte wirkte. Bisweilen wird die Einrichtung eines Koalitionsausschusses bereits in den Koalitionsvereinbarungen verbindlich geregelt wie 1998 bei der Bildung der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene.

Gab und gibt es Koalitionsausschüsse in den Ländern?
Als 1961 in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP erstmals auf Bundesebene ein Koalitionsausschuss institutionalisiert wurde, gab es solche Gremien bereits auf Länderebene wie in Bayern während der Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Wilhelm Hoegner oder in Rheinland-Pfalz, als CDU und FDP Koalitionsregierungen unter der Führung von Peter Altmeier bildeten. Auch als Koalitionsrunde oder Koalitionsgespräch bezeichnet, ist diese Form der informellen Zusammenarbeit heute gängige Praxis in Koalitionsregierungen auf Länderebene.

Welche anderen Staaten haben Erfahrungen mit Koalitionsausschüssen gemacht?
Der Koalitionsausschuss ist kein rein deutsches Phänomen. Auch in klassischen Koalitionsländern Westeuropas wie Dänemark, Italien, Luxemburg, die Niederlande oder Österreich ist die Einrichtung eines solchen Gremiums die Regel.

Zustandekommen der Großen Koalition
Wie kam die erste Große Koalition zustande? Wer waren die treibenden Kräfte auf Seiten der CDU und CSU sowie der SPD?
Die Vorgeschichte der Großen Koalition beginnt mit der „Spiegel-Affäre“ im Herbst 1962. Auch wenn ein Zusammengehen der Unionsparteien und der Sozialdemokraten Anfang Dezember 1962 am Widerstand der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag scheiterte, die einer Verlängerung der Kanzlerschaft Adenauers und der Einführung eines Mehrheitswahlrechts nicht zustimmen wollte, war seit diesem Zeitpunkt die Große Koalition auf Bundesebene eine ernsthafte Option. Durch die Aufnahme offizieller Koalitionsverhandlungen hatten Adenauer und die Unionsparteien die Regierungs- und Koalitionsfähigkeit der SPD anerkannt. Treibende Kraft auf sozialdemokratischer Seite war Herbert Wehner, der geistige Vater des Godesberger Programms von 1959, das die Grundlage für die Entwicklung der SPD von einer Interessen- und Weltanschauungspartei zur linken Volkspartei bildete. Wehner verfolgte das Ziel, die SPD regierungsfähig zu machen. Über die Annäherung der politischen Standpunkte von SPD und CDU/CSU strebte er die Bildung einer Großen Koalition an. Seine Mitspieler auf Unionsseite waren Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, ein führender Außenpolitiker der CDU/CSU-Fraktion, und Paul Lücke, seit 1957 Mitglied im Bundeskabinett. Von einer Großen Koalition versprachen sich die beiden Unionspolitiker einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität der Demokratie und die Kontinuität der von der Union eingeleiteten Politik. Unterstützung erhielten die Befürworter einer Großen Koalition von Bundespräsident Heinrich Lübke, der sich seit 1961 um das Zustandekommen einer entsprechenden Regierungskoalition bemühte und in diesem Sinne auf die Regierungsbildung Einfluss zu nehmen versuchte. Seine Wiederwahl im Jahre 1964 mit der Unterstützung der großen Mehrheit der SPD-Fraktion in der Bundesversammlung ist rückblickend ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Großen Koalition gewesen. Das Ziel wurde schließlich im Herbst 1966 unter maßgeblicher Beteiligung der CSU und ihres Vorsitzenden Franz Josef Strauß erreicht, der erkannt hatte, dass er nur bei einem Zusammengehen mit der SPD auf eine Rückkehr an den Kabinettstisch hoffen durfte. Die christlich-liberale Regierung unter Bundeskanzler Ludwig Erhard zerbrach am 27. Oktober 1966 am Streit über den Ausgleich des Bundeshaushalts 1967. Die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen CDU, CSU und FDP war nicht mehr gegeben. Dabei verstärkten sich sachliche und persönliche Meinungsverschiedenheiten gegenseitig.

Warum gab es keinen Koalitionsvertrag? War dies eine bewusste Entscheidung der Verantwortlichen oder fehlte einfach die Zeit, mitten in der Legislaturperiode mehrere Wochen über gemeinsame Ziele und Absichten zu verhandeln?
Der Koalitionsvertrag gilt als die verbindlichste schriftliche Festlegung, die zwischen allen Parteien eines Regierungsbündnisses vereinbart wird. Der Abschluss entsprechender Vereinbarungen ist sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene heute gängige Praxis. Der erste Koalitionsvertrag auf Bundesebene wurde nach der Bundestagswahl von 1961 geschlossen, als die Unionsparteien nach dem Verlust der absoluten Mehrheit eine Koalition mit der FDP bildeten. Aufgrund von Indiskretionen wurde der Vertrag publik. Vor allem der darin erwähnte Koalitionsausschuss, der als eine Art von Ober- oder Nebenregierung kritisiert wurde, löste große Unruhe in der Öffentlichkeit aus. Auch vor diesem Hintergrund verzichteten CDU, CSU und SPD im Herbst 1966 auf den Abschluss eines förmlichen Koalitionsvertrages. Die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 erfüllte die Funktion eines Koalitionsvertrages; sie stellte das Arbeitsprogramm für die neue Bundesregierung dar, auf das sich die Koalitionspolitiker stets beriefen.

Durch die Koalition der beiden großen Fraktionen hatte die Regierung im Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit. Das Parlament agierte quasi als eine verfassungsergänzende bzw. verfassungsverbessernde Versammlung als eine Art Parlamentarischer Rat. Hätten die verabschiedeten Grundgesetzänderungen auch von einer christlich-liberalen oder einer sozial-liberalen Koalition mit Unterstützung der Opposition verabschiedet werden können?
Eine grundlegende Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und die Notstandsverfassung waren Projekte, die seit den 1950er Jahren auf der Tagesordnung standen. Mehrere Anläufe zur Verabschiedung einer Notstandsverfassung waren an der fehlenden Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag gescheitert. Erst durch den Eintritt der SPD in eine Regierungskoalition mit den Unionsparteien, die die Sozialdemokraten zur Mitverantwortung zwang und auch eine verfassungsändernde Mehrheit im Bundesrat sicherte, konnten 1968 die Notstandsverfassung und 1969 die Finanzverfassung verabschiedet werden.

Entstehung des Kreßbronner Kreises
Auf der Homepage der Gemeinde Kreßbronn inzwischen mit ”ss” statt ”ß” geschrieben wird mit dem Slogan geworben: ”Kreßbronn am Bodensee – da bin gern”. Was war der historische Hintergrund für das erste Treffen in Kreßbronn am 29. August 1967? Wer nahm an dieser ersten Zusammenkunft teil?
Auf die Einrichtung eines Koalitionsausschusses war zu Beginn der Großen Koalition bewusst verzichtet worden, sollte doch jeder Vergleich mit der Praxis der Großen Koalition in Österreich von vornherein ausgeschlossen sein. Das Bundeskabinett sollte als gemeinsamer Ausschuss fungieren, in dem auf der Grundlage der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 die Entscheidungen der Großen Koalition herbeigeführt wurden. Doch bereits im Sommer 1967 zeigte sich, dass dieses vergleichsweise große Gremium – neben dem Bundeskanzler saßen 19 Bundesminister am Kabinettstisch – „als clearing-Stelle für koalitionspolitische Probleme“ (Klaus Hildebrand) nur bedingt geeignet war. Koalitionsinterner Streit über die Ostpolitik und Meinungsverschiedenheiten bei der Aufstellung der Mittelfristigen Finanzplanung veranlassten Kiesinger, die Spitzen der drei Koalitionsparteien nach Kreßbronn am Bodensee, wo er seinen Sommerurlaub verbrachte, einzuladen. Die Zusammenkunft mit Willy Brandt, Herbert Wehner und CDU-Generalsekretär Bruno Heck am 29. August 1967 bildete den Auftakt der Gespräche, die der Bundeskanzler im Sommer 1967 an seinem Urlaubsort mit den Spitzenpolitikern der Großen Koalition führte. Am 30. und 31. August folgten Gespräche mit Strauß, Barzel und Stücklen. Zu einem Vier-Augen-Gespräch, das am 2. September 1967 stattfand, reiste schließlich noch der SPD-Fraktionsvorsitzende Schmidt an.

Mit welcher Begründung wurden die Gespräche institutionalisiert? Wer sprach sich dafür aus?
Es war nicht von Bundeskanzler Kiesinger intendiert, dass sich aus der Zusammenkunft in Kreßbronn im Sommer 1967 ein fester Gesprächskreis der Koalitionsparteien entwickelte. Er stand der Institutionalisierung solcher Gespräche reserviert gegenüber, da er durch ein entsprechendes Gremium eine Beeinträchtigung seiner Richtlinienkompetenz als Bundeskanzler befürchtete. Die Initiative zur Einrichtung eines Koalitionsausschusses ging von den beiden Fraktionsvorsitzenden Barzel und Schmidt aus. Im Herbst 1967 klagten sie wiederholt über die mangelhafte Kommunikation zwischen der Regierung und den sie tragenden Fraktionen. Die beiden Fraktionsvorsitzenden sahen sich nicht als bloße Erfüllungsgehilfen der Regierung, die für die Beschlüsse des Bundeskabinetts die notwendige parlamentarische Mehrheit organisierten. In ihrem Anliegen wurden sie von Willy Brandt unterstützt. Nach erneuten Meinungsverschiedenheiten über die Ostpolitik hielt der SPD-Vorsitzende und Bundesaußenminister Anfang November 1967 die Einrichtung eines Koalitionsausschusses für sinnvoll, da er sich hiervon eine Erleichterung des Regierungshandelns erhoffte.

Bundeskanzler Kiesinger führte im Kreßbronner Kreis formal den Vorsitz und nahm als Einziger an allen Sitzungen teil. Agierte er als primus inter pares oder als Bundeskanzler mit Richtlinienkompetenz?
Die Skepsis des Bundeskanzlers gegenüber einem Koalitionsausschuss wich sehr schnell der Erkenntnis, dass sich mit dem Kreßbronner Kreis ein zentrales Forum der Verständigung zwischen den drei Koalitionspartnern CDU, CSU und SPD etablierte. Kiesinger übte im Wesentlichen die Rolle eines überparteilichen Sitzungsleiters aus, der zwischen den drei Parteien auszugleichen versuchte oder auch mahnende Worte fand wie beispielsweise im Oktober 1968 – Bruno Heck und Hans-Jürgen Wischnewski legten ihre Ministerämter nieder, um sich im Hinblick auf die Bundestagswahl 1969 ganz ihren Parteiämtern als CDU-Generalsekretär bzw. SPD-Bundesgeschäftsführer widmen zu können, Unionsparteien und SPD nominierten jeweils einen eigenen Kandidaten für die Nachfolge Heinrich Lübkes als Bundespräsident –, als er CDU, CSU und SPD mahnte, die Arbeit der Bundesregierung nicht durch einen frühzeitigen Wahlkampf erschweren zu wollen.

Wie sah es mit der Teilnahme des SPD-Parteivorsitzenden Brandt und des Ministers für gesamtdeutsche Fragen Wehner aus? War der Vorsitzende der CSU und Bundesminister für Wirtschaft, Franz-Josef Strauß, in die Koalitionsgespräche eingebunden?
Während Herbert Wehner an fast allen Sitzungen des Kreßbronner Kreises teilnahm, hinderten Willy Brandt terminliche Schwierigkeiten, regelmäßig im Koalitionsausschuss zu erscheinen. Waren es bei dem SPD-Vorsitzenden die vielfältigen Verpflichtungen als Bundesminister des Auswärtigen, die seine häufige Abwesenheit erklären, blieb Franz Josef Strauß bewusst zahlreichen Sitzungen des Kreßbronner Kreises fern. Der CSU-Vorsitzende betrieb nach den Worten des CDU-Generalsekretärs Bruno Heck „Politik durch Nichterscheinen“. Strauß war nur bei etwa der Hälfte der Sitzungen anwesend. Dann konnte er – wie Heck das Verhalten des CSU-Vorsitzenden treffend beschrieben hat – „notfalls immer sagen, er sei nicht selbst dabei gewesen“. Für die CSU stellte der Eintritt in die Regierung der Großen Koalition eine große Herausforderung dar. Die neue Bundesregierung verfügte auch ohne die Stimmen der CSU über eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag. Strauß und seine Parteifreunde suchten deshalb nach Möglichkeiten parteipolitischer Profilierung innerhalb der Großen Koalition. Inhaltlich bot die Debatte über die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages eine Gelegenheit, sich von der SPD, aber auch von der Schwesterpartei CDU abzugrenzen. Während die SPD mit Bundesaußenminister Brandt an der Spitze auf eine baldige Zustimmung zum Atomwaffensperrvertrag drängte und Rainer Barzel die CDU/CSU-Fraktion auf ein konditioniertes Ja zu dem zu erwartenden Vertragswerk festzulegen versuchte, schwang sich die CSU unter der Führung von Strauß zur Wortführerin der Ablehnungsfront auf.

Wer waren die Wortführer bei den Sitzungen? Wer hörte schweigend zu?
Wortführer in den Sitzungen des Koalitionsausschusses waren auf Unionsseite Bundeskanzler Kiesinger und der Fraktionsvorsitzende Barzel, für die SPD nahmen vor allem Brandt, sofern er anwesend war, und insbesondere Fraktionsvorsitzender Schmidt das Wort.

Wurden gelegentlich Experten eingeladen?
Zu verschiedenen Tagesordnungspunkten wurden gelegentlich auch Sachverständige eingeladen. Dabei handelte es sich vornehmlich um einzelne Bundesminister und fachkundige Mitglieder der Koalitionsfraktionen. Zu nennen sind hier Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, der zur Krise im Steinkohlenbergbau Stellung nahm, Bundesinnenminister Ernst Benda, der über die Möglichkeiten eines Verbotsverfahrens gegen die NPD referierte, oder Otto Schmidt, der Vorsitzende des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, der an den Beratungen zur Finanzverfassungsreform teilnahm.

War der Regierungssprecher dabei, welcher der Bundespressekonferenz regelmäßig über die Kabinettssitzungen berichten musste?
Regierungssprecher Günter Diehl zählte nicht zu dem festen Teilnehmerkreis des Koalitionsausschusses. Er nahm lediglich an zwei Sitzungen zeitweise teil, unter anderem an der Sitzung vom 28. Februar 1968, als der Kreßbronner Kreis die Erklärung der Bundesregierung zu der Rundfunk- und Fernsehansprache von Bundespräsident Heinrich Lübke beriet, in der sich das Staatsoberhaupt gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für das Berliner Architekturbüro Schlempp während der NS-Zeit verteidigte.

In der Einleitung wird ein Brandbrief des SPD-Fraktionsvorsitzenden Schmidt an Kiesinger vom Dezember 1968 mit massiver Kritik an der Verhandlungsweise des Ausschusses erwähnt. Der Journalist Peter Pragal schreibt dazu in seinem Artikel ”Wer und was die letzte große Koalition zusammenhielt”

”Der Kreis, von der Öffentlichkeit als Nebenregierung und „Küchenkabinett“ beargwöhnt, kam dem Führungsstil Kiesingers entgegen. „König Silberzunge,“ wie der rhetorisch brillante, aber oft entscheidungsschwache Schwabe genannt wurde, liebte den Gedankenaustausch mit profilierten Köpfen. Aber der „wandelnde Vermittlungsausschuss,“ so ein anderer Titel Kiesingers, strapazierte zuweilen die Geduld der Teilnehmer mit ausschweifenden Monologen. Als sich der Kreis mit zunehmenden Spannungen in der Koalition zur Schlichtungsstelle von persönlichen Querelen und politischen Konflikten wandelte, verlangten Politiker beider Seiten mehr Effizienz. Eines Tages im Dezember 1968 verließ SPD-Fraktionschef Helmut Schmidt den Kressbronner Kreis vorzeitig. Er habe Wichtigeres zu tun, so gab er zu verstehen, als Stunden um Stunden in einem Debattierklub zu sitzen, ohne dass dabei tragfähige Lösungen herauskämen. Ihm folgte sein CDU/CSU-Amtskollege Rainer Barzel. Der Abgang blieb nicht ohne Konsequenzen. Der Zirkel der Mächtigen wurde nun auf vier Personen von jeder Seite beschränkt. Auch das übliche gemeinsame Mittagessen wurde gestrichen. Die selbstbewusste Haltung des Gespanns machte deutlich, wie sich die politischen Gewichte im Regierungsbündnis verschoben hatten. Längst hatten Schmidt und Barzel die Rolle von Krisenmanagern übernommen, die dem angeschlagenen Bündnis Halt gaben und dafür sorgten, dass gemeinsame Vorhaben über die parlamentarischen Hürden kamen.”


Lässt sich somit konstatieren, dass die Effektivität der Großen Koalition in erster Linie dem effizienten und vertrauensvollen Management von Schmidt und Barzel zuzuschreiben ist?
Das Zusammenwirken der beiden Fraktionsvorsitzenden, die die nicht immer einfache Aufgabe erledigten, ihre jeweilige Fraktion auf Kurs zu halten, war die Voraussetzung für die insgesamt erfolgreiche Arbeit der ersten Großen Koalition, die nach Philipp Gassert als „die erfolgreichste Regierung Westdeutschlands“ bezeichnet werden darf. Gewiss, die Kooperation zwischen Strauß und Schiller war zur Überwindung der wirtschafts- und haushaltspolitischen Probleme, die in der Mitte der 1960er Jahre in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung eine Krisenstimmung entstehen ließen, sehr wichtig, doch blieb das Einvernehmen zwischen dem Bundesfinanzminister und dem Bundeswirtschaftsminister zeitlich begrenzt. Mit zunehmender Dauer der Großen Koalition entwickelte sich die anfänglich gute Zusammenarbeit zu einem Konkurrenzverhältnis. Wichtig waren auch die Beziehungen zwischen Kiesinger und Wehner, die für die Zusammenarbeit im Bundeskabinett bedeutsam waren, weil das Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und seinem Stellvertreter, Bundesaußenminister Brandt, distanziert blieb. Doch die für ihn nicht recht kalkulierbaren deutschlandpolitischen Absichten seines gesamtdeutschen Ministers ließen den Bundeskanzler bereits im Frühjahr 1967 misstrauisch werden, so dass die anfänglich harmonische Zusammenarbeit zwischen dem ehemaligen Mitglied der NSDAP und dem früheren Aktivisten der KPD schwieriger wurde. Dagegen war die Zusammenarbeit zwischen Barzel und Schmidt während des gesamten Zeitraums der Großen Koalition belastbar. Ihre Kooperation bewährte sich gerade in Krisenzeiten wie bei der Verabschiedung der Notstandsverfassung oder nach der Bundespräsidentenwahl, als sich die Unionsparteien und die SPD bereits für den Bundestagswahlkampf in Position brachten und es noch viele unerledigte Baustellen gab.

Der Journalist Robert Strobel analysierte in seinem im Juli 1968 erschienenen Artikel ”Kreßbronner Motor. Die Männer, die Bonns Politik machen”:

”Was im Kabinett Erhard der Koalitionsausschuß war, ist im Kabinett Kiesinger der Kreßbronner Kreis: ein ambivalentes Gremium von Vertretern der Exekutive wie der Legislative, die sich zu parlamentarisch durchsetzbaren Beschlüssen zusammenraufen. Der Koalitionsausschuß im Kabinett Erhard funktionierte oft deshalb nicht, weil die ihm angehörenden FDP-Vertreter nachher von ihrer Fraktion desavouiert wurden; manchmal blieben auch die CDU-Mitglieder des Koalitionsausschusses nicht bei der Stange oder konnten es nicht. Der Kreßbronner Kreis darf mit mehr Disziplin rechnen. Was hier beschlossen wird, wird nachher in der Regel von den beiden Fraktionen bestätigt, wenn auch oft mit weitreichenden Abänderungen.”

Dieses Fazit klingt nach einer Bestätigung des Struckschen Gesetzes. Kann diese zeitgenössische Sichtweise bestätigt werden?
Die Bedeutung des Kreßbronner Kreises gründete auf dem politischen Gewicht der in ihm vertretenen maßgeblichen Repräsentanten der an der Regierung beteiligten Parteien und Fraktionen. Hier versammelten sich, wie es Klaus Hildebrand formuliert hat, „Bonns einflußreichste Politiker“. Die Entscheidungen des Koalitionsausschusses waren für das Bundeskabinett und die beiden Koalitionsfraktionen faktisch verbindlich. So stimmte das Bundeskabinett am 3. Juni 1969 einem Kompromissvorschlag des Kreßbronner Kreises in der Kambodscha-Frage, auf den sich der Koalitionsausschuss in der Nacht zuvor nach zähem Ringen verständigt hatte, ohne Diskussion zu. Ein weiteres Beispiel ist das Arbeitsprogramm der Großen Koalition für die zweite Hälfte der Legislaturperiode, das der Kreßbronner Kreis in seiner Sitzung am 29. Juni 1968 beschloss. Barzel unterrichtete hierüber die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, die den Beschluss ohne Widerspruch zur Kenntnis nahmen.

Wenn man das Bundeskabinett als den vom Grundgesetz protegierten Koalitionsschuss ansieht: Bedeutet die Gründung eines Koalitionsausschusses automatisch eine Schwächung des Kabinetts? Oder wurde das Kabinett gestärkt, weil es durch die Vorarbeit des Führungspersonals endlich wieder effektiver handeln konnte?
Die Einrichtung eines Koalitionsausschusses ist vor allem als Antwort auf Entscheidungsdefizite im Kabinett zu verstehen. In der Regel sind nicht alle maßgeblichen Vertreter der an der Regierung beteiligten Parteien im Kabinett versammelt, womit es diesem Gremium an politischer Durchsetzungskraft mangelt. Während der ersten Großen Koalition in Bonn fehlten mit Barzel und Schmidt zwei Schwergewichte am Kabinettstisch. Auch stellt die Größe eines Kabinetts ein Hindernis für eine effiziente Entscheidungsfindung dar. Koalitionsausschüsse führen nicht automatisch zu einer Schwächung des Kabinetts. Im Gegenteil, sie können die Arbeit im Kabinett und damit das Regierungshandeln insgesamt erleichtern. Prävention und Streitschlichtung sind wichtige Funktionen, die ein Koalitionsausschuss in diesem Zusammenhang erfüllen kann. Im Koalitionsausschuss können strittige Fragen geklärt werden, ehe sich daraus im Kabinett ein ernsthafter Konflikt entwickelt. Ist bereits im Kabinett ein Konflikt entstanden, der nicht zu lösen scheint, besteht die Möglichkeit eines Krisenmanagements im Koalitionsausschuss. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist der Kreßbronner Kreis. Seine Arbeit beförderte den Prozess der Entscheidungsfindung und führte dadurch seit dem Spätsommer 1967 zu einer spürbaren Verbesserung der Regierungsarbeit.

An welchen Orten traf sich der Kreßbronner Kreis? An welchen Wochentagen und zu welchen Tagezeiten? Gab es diesbezüglich Veränderungen im Laufe der Wahlperiode? Wie haben die Teilnehmer die Ergebnisse gegenüber ihrer Partei und ihrer Fraktion kommuniziert? Oder geschah dies über den Umweg über das Bundeskabinett?
Nachdem der Kreßbronner Kreis zu Beginn des Jahres 1968 als Koalitionsausschuss institutionalisiert war, verständigten sich seine Teilnehmer, jeweils dienstags im Bundeskanzleramt um 13.00 Uhr zu tagen, verbunden mit einem kleinen Mittagessen. Von dieser Regel wich der Kreis 1968 nur am 5. März ab, als die Fraktionen und Ausschüsse des Deutschen Bundestages im Rahmen einer so genannten Berlin-Woche an der Spree tagten und der Koalitionsausschuss seine Sitzung ebenfalls dort abhielt. Der Dienstag bot sich als Sitzungstermin an, da am gleichen Tag nachmittags die Fraktionssitzungen der CDU/CSU und der SPD stattfanden, in denen die Ergebnisse der Beratungen im Kreßbronner Kreis unmittelbar vorgestellt und diskutiert werden konnten. Auch bestand die Möglichkeit, die Sitzungen des Bundeskabinetts, das jeweils mittwochs zusammenkam, vorzubereiten. Nach der heftigen Kritik Helmut Schmidts an der Arbeitsweise und der Zusammensetzung des Kreßbronner Kreises im Dezember 1968 sollte der Teilnehmerkreis auf jeweils vier Vertreter des Bundeskabinetts und der Fraktionen begrenzt werden. Schließlich wurde für 1969 als neuer Sitzungstermin jeder Freitag einer Sitzungswoche des Deutschen Bundestages, 11.00 Uhr vormittags, festgelegt. Im Wahljahr 1969 büßte der Kreßbronner Kreis allerdings stark an Bedeutung ein. Es fanden nur noch sechs Sitzungen statt. Die Vorboten des Wahlkampfs zogen ein, womit die Bereitschaft zur Kompromissfindung rapide abnahm.

Konnte die vertrauliche Aussprache bewahrt werden? Wurden die Inhalte der Gespräche ”durchgestochen”, d.h. Journalisten zur Veröffentlichung mitgeteilt?
Die Vertraulichkeit der Beratungen war nicht jederzeit gegeben. Im Mai 1968 beklagten Brandt und Schmidt unabhängig voneinander Indiskretionen und kritisierten, dass Mitteilungen über den Inhalt der Koalitionsgespräche an die Presse gelangten.

Da Koalitionsausschüsse nicht im Grundgesetz Erwähnung finden, wurde bereits von den Zeitgenossen der Vorwurf der Verfassungsdeformation und der Ausschaltung des Parlaments erhoben. In der Einleitung wird diese Auffassung zurückgewiesen: ”Der Vorwurf, Verfassungsorgane unterlägen einer Außensteuerung durch informelle Gremien wie den ”Kreßbronner Kreis” offenbart ”Fremdheit gegenüber parlamentarisch verfaßter Parlamentsdemokratie” – das letzte Zitat stammt von dem Politkwissenschaftler Rudzio. Besteht nicht aber grundsätzlich die Gefahr des Postenschachers und Ausschaltung der eigentlich vorgesehenen Institutionen? In der Einleitung werden kritische Urteile über die ältere Praxis des Koalitionsausschusses der Großen Koalition in Österreich referiert.
Der These einer unzulässigen Außensteuerung von Verfassungsorganen wie Bundeskanzler, Bundesregierung und Deutscher Bundestag ist entgegenzuhalten, dass das Grundgesetz keine Vorschriften zum Willensbildungsprozess von Verfassungsorganen kennt. Parteien, die in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang genießen und nach Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes am politischen Willensbildungsprozess mitwirken, können also über Koalitionsausschüsse auf die Willensbildung der einzelnen Verfassungsorgane Einfluss nehmen. Die Verantwortung für politische Entscheidungen verbleibt bei Regierung und Parlament. Bundesregierung und Deutscher Bundestag müssen entscheiden, ob sie die Empfehlung eines Koalitionsausschusses in den Rang eines verbindlichen Beschlusses heben.

Ich suchte im Personenregister nach der dem seinerzeitigen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Kopf, um mich über die Zusammenarbeit mit diesem Ausschuss zu informieren.
Im Koalitionsgespräch vom 30. Januar 1968 heißt es, dass Kopf gebeten werden sollte, den Auswärtigen Ausschuss für den 31. Januar 1968 zu einer Sondersitzung über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien einzuberufen. Dies geschah auch, wie der von mir edierten Edition der Sitzungsprotokolle des Ausschusses zu entnehmen ist.
Im Koalitionsgespräch vom 26. März 1968 wird über den Geheimfonds des Auswärtigen Amts gesprochen. Außenminister Brandt bezeichnete die Kürzung um eine Million DM als akzeptabel, kritisierte aber die Überprüfung der Verwendung durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofs. Der Auswärtige Ausschuss befasste sich in seinen Sitzungen vom 28. November und 5. Dezember 1968 mit den im ”Entwurf zum Bundeshaushaltsplan für das Rechnungsjahr 1969 vorgesehenen maßgeblichen Ansätzen für Aufgaben, die den Geschäftsbereich des Auswärtigen Ausschusses berühren”. Der sozialdemokratische Abgeordnete Raffert regte entsprechend dem Wunsch Brandts an, einen Beschluss zu fassen, den Geheimfonds der Kontrolle durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofs zu entziehen.
Von einer Ausschaltung des Parlaments würde ich für den Bereich der Außenpolitik also nicht sprechen. Anregungen wurden gegeben, die von den zuständigen Gremien umgesetzt worden sind.

Konferenz über nationale Parlamente in der Europäischen Union

Februar 13, 2013 By: Parlamentshistoriker Category: Europa, Konferenz

Das AEI und des Forschungskonsortium OPAL laden zu einer gemeinsamen Konferenz ein:

National Parliaments in the EU: The Performance of Multilevel Democracy in Europe

Die Konferenz wird am 7. und 8. März 2013 in der Europäischen Akademie Berlin in englischer Sprache stattfinden. Nähere Informationen entnehmen Sie bitte dem beigefügten Programm.

Fragen der demokratischen Legitimation europäischer Entscheidungen haben mit dem Vertrag von Lissabon, aber auch mit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise eine besondere Aktualität erhalten. Wie reagieren nationale Parlamente auf diese neue Herausforderung? Welche Möglichkeiten haben sie, Regierungen im europäischen Mehrebenensystem zu kontrollieren? Sind alle Parlamente dieser Herausforderung im gleichen Maße gewachsen? Und hat dies Auswirkungen auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik?

Die Konferenz wird vom Jean Monnet Lehrstuhl der Universität zu Köln sowie dem Arbeitskreis Europäische Integration (AEI) organisiert. Die Konferenz wird finanziell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie der Europäischen Kommission unterstützt.

Interessierte melden sich bitte bis zum 15. Februar verbindlich bei Birte Windheuser (birte.windheuser@uni-koeln.de) an. Die Teilnahme ist kostenlos.

Kontakt:
Arbeitskreis Europäische Integration e.V.
c/o SWP, Ludwigkirchplatz 3-4
10719 Berlin

Tel. 030 / 88 00 72 62
E-Mail: aei@aei-ecsa.de
Internet: www.aei-ecsa.de